
Kentaur, 2017
290cm x 150cm x 290cm
Eichenholz
Seefeld Sarnen, Obwalden
«Kentaur» von René Odermatt
Die Arbeit „Kentaur“ von René Odermatt begann mit der Betrachtung eines Fundstücks aus der Natur. Pragmatisch betrachtet, handelt es sich dabei um ein Stück Holz, die Wurzel eines Rebstocks. Die verknoteten Glieder zeugen von einem organischen Wachstum, die Bruchstellen sind durch Alterung und Witterung abgeschliffen.
Erst im genauen Betrachten entstehen vielfältige Assoziationen und Empfindungen: ästhetische Formen, versteckte Figuren, Landschaften aus Höhlen und Erhebungen. Erinnerungen an augengleiche Astlöcher im Täfer des Kinderzimmers werden bei mir geweckt, das Erschrecken über das Knacken eines Astes beim Spaziergang durch Laub, der Geruch von feuchtem Waldboden, das Krabbeln einer Ameise auf nackter Haut. Im einzelnen Stück Holz scheint immer noch seine ursprüngliche Form, der Baum, der Wald verwahrt.
Wir alle kennen Situationen besonderer Aufmerksamkeit oder Deutung von Dingen: Als Kinder haben wir Äste mit Schnur umwickelt und sie damit zu archäologischen Fundstücken oder magischen Waffen erklärt. In der Schweizer Volkskunst werden knorrige Äste als Fratzen, Tier- oder Menschenfiguren erkannt und durch handwerkliche Eingriffe in ihrem Ausdruck und der Charakteristik verstärkt. Die asiatische Kultur pflegt die Tradition der Suiseki, der Gelehrtensteine. Diese in der Natur vorgefundene Steine werden aufgrund ihrer ausdrucksstarken Form, Farbe oder Oberfläche ausgewählt, als Miniatur-Landschaften, Skulpturen oder Objekte interpretiert und mit Sockeln versehen präsentiert. Die Tatsache, dass auf der Erscheinungsebene die Dinge in unserer Wahrnehmung weitgehend die Gleichen bleiben, aber in verschiedensten Kontexten zu jeweils etwas ganz anderem werden können, verbindet all diese kulturellen Praktiken und dient auch als Ausgangspunkt für René Odermatts künstlerische Auseinandersetzung.
Der gelernte Holzbildhauer hat den vorgefundenen Wurzelstock mit technischen Mitteln ins Monumentale vergrössert und aus einem verleimten Eichenholzblock fräsen lassen. Durch die detailgetreue Abbildung sowie die lebendigen Eigenschaften des Werkstoffs wie Maserung, Schichtung, Farbe und Glanz erhält der Wurzelstock die Erscheinung von etwas natürlich Gewachsenem. Dazu trägt auch die Entsprechung der Materialität – Holz in Holz – bei. Dieser Eindruck wird sich im Verlauf der Zeit durch die witterungsbedingten Veränderungen der Skulptur noch verstärken. Gleichzeitig lassen die artifiziellen Fräs- und Verleimungsspuren Rückschlüsse auf die Entstehung des Objekts zu und verweisen auf die Differenz zwischen Natur- und Kunstgegenstand. Beide treten in ein spannungsvolles Verhältnis zueinander. Ein Verhältnis, das sich auch in Platzierung am Ufer des Sarnersees wiederspiegelt, wo natürlich gewachsene Bäume auf eine künstlich angelegte Park- und Freizeitanlage treffen. In ihrer erratischen Erscheinung wirkt die Holzskulptur darin wie ein Findling oder ein Stück Schwemmgut – als Denkmal für die Jahrhundertüberschwemmung von 2005. Dieses Naturereignis gab Anlass für die Neugestaltung des Seefeldparks und die Ausschreibung des Wettbewerbs für Kunst im öffentlichen Raum.
Daraus, dass dieser Wurzelstock gleichzeitig Naturgegenstand und auch Kunstwerk sein kann, entwickelt sich eine Fülle gedanklicher Reflexion über die Beschaffenheit unserer Wahrnehmung und das Vermögen der Kunst. René Odermatt interessiert sich für die Erscheinungsweise alltäglicher Dinge, ihre Mehrdeutigkeit und die Überführung in den Kunstkontext. Denn wenn jedes Ding zugleich es selbst und ein anderes sein kann, ist es ständigen Veränderungen, Metamorphosen, Übergangsformen unterworfen, die vermeintlich fixierte Funktionen und Erscheinungen in Frage stellen. Davon ausgehend, dass der Kontext die Bedeutung eines Gegenstands mitbestimmt, reiht sich Odermatt ein, in eine künstlerische Auseinandersetzung, die wie selbstverständlich an das Ready Made anknüpft: Nicht mehr die handwerklich versierte Fertigung eines Unikats, sondern die konzeptionelle Idee rückt ins Zentrum der Aufmerksamkeit des Künstlers. Er nutzt das Potential der Kunst, die Umdeutung von alltäglichen Dingen täuschend echt, mit bestechender Ernsthaftigkeit und den technischen Mitteln unserer Zeit zu betreiben. Tatsächlich betritt René Odermatt mit der technischen und damit reproduzierbaren Fertigung seiner Arbeit Neuland und erweitert konsequent sein Repertoire der gestalterischen Mimikri.
Den Werktitel „Kentaur“ lese ich nicht ohne Augenzwinkern als einen Wink oder Orientierungspunkt in diesem Spiel mit Bedeutungen, die sich stets aufs Neue entfaltenden. Den Dingen einen Namen zu geben, bedeutet ihre spezifische Qualität herauszustreichen, ihre Besonderheiten in differenzierte Wahrnehmungen zu überführen und zu befragen.
Der Kentaur entstammt der griechischen Mythologie. In Ovids Metamorphosen wird er als „zwiegestaltig“ beschrieben, als Mischwesen zwischen Mensch und Pferd. Symbolhaft steht der Kentaur darin für den „Menschen als zerrissenes Wesen zwischen der animalischen, instinktiven und der vom Geist geleiteten Natur“.[1] Diese Dialektik von Natur und Kultur wiederspiegelt sich in Odermatts künstlerischer Setzung; darin wie er dem organischen Material mit technischen Mitteln habhaft wird.
Der argentinische Autor Jorge Luis Borges schreibt in seinem Handbuch der phantastischen Zoologie darüber, dass es hingegen nicht schwer sei, die Zweigestalt des Kentauren zu vergessen und sich vorzustellen, dass es in der platonischen Welt der Formen – ebenso wie ein Urbild des Pferdes oder des Menschens – auch ein Urbild des Kentauren gäbe.[2] Man vermutet, dass für die Griechen der Antike – bevor sie die Reitkunst kannten – der erste reitende Nomande, den sie zu Gesicht bekamen, eins mit seinem Pferd zu sein schien. Auch ist die Erzählung überliefert, dass die Lateinamerikanischen Ureinwohner die Soldaten von Pizarro oder Cortes ebenfalls für Kentauren hielten.
Die Psychologie lernt uns, dass Wahrnehmung zu Allererst das Sehen von Ganzheiten ist, man aber ihre Elemente erst danach sieht. Solche Ganzheiten, die sich den sinnlichen Wahrnehmungen direkt aufdrängen und unabhängig von ihren Bestandteilen sind, nennt die Psychologie „Gestalten“. Die Verschmelzung von Pferd und Mensch wurde auf den ersten Blick also als eigenständige Gestalt gesehen, genau so, wie wir versucht sind die vorgefundene Wurzel im Figürlichen zu verorten.
Eine solche Gestalt oder Ganzheit schafft René Odermatt, unabhängig davon ob wir darin einen Wurzelstock, einen Kentauren, einen Elefanten oder Ingwerknollen entdecken. Der Titel der Arbeit ist Anregung dazu, unsere Wahrnehmungs- und Assoziationskraft spielen zu lassen. Das Sehen trifft auf das fantasievolle gedankliche Umformen in etwas Bedeutungsvolles, in ein kraftvolles Zeichen, das für ein anderes, ohne das Zutun des Betrachters nicht Vorhandenes steht.
Eva-Maria Knüsel
[1] Clemens Zerling, Wolfgang Bauer: Lexikon der Tiersymbolik, München: Kösel Verlag, 2003, S. 162.
[2] Jorge Luis Borges: Handbuch der phantastischen Zoologie, München/Wien: Hanser Verlag, 1993, S. 92.
Das Projekt entstand in Zusammenarbeit mit:
Kunstgiesserei St.Gallen AG
Neue Holzbau AG Lungern
Werkhof Gemeinde Sarnen